Strandsegeln

Strandsegeler –

Verrückte Draufgänger mit viel Gefühl

3_2c_strandsegler_100.jpg

Mit Schiffen über Land fahren – Mit Rennwagen segeln gehen

Strandsegler sind Menschen, die zum Glück alles andersrum machen: Sie fahren mit Schiffen über Land und setzen Segel auf Rennwagen. Sie geniessen die schönsten Strände, wenn Andere kalte Füsse kriegen – bei Wind und Wetter. Der Sport ist 400 Jahre alt, aber immer noch ein Hobby für Wagemutige im kleinen Kreis. Geboren als Zeilwagenrijden in Holland und Belgien, gepflegt als Char à voile in Nordfrankreich und als Sand Yachting in England, längst angekommen in Deutschland und frisch entdeckt in Australien. Nur die besten und die grössten Strände sind gerade gut genug! Eine Kostprobe für Interessierte. Von Jens Brambusch

3_2c_strandsegler_100aa.jpg

3_2c_strandsegler_100bb.jpg

Abb. oben: Strandsegeln vor 400 Jahren in Scheveningen, vor 100 Jahren in Katwijk (Holland) und Middelkerke (Belgien), und heute überall an den grössten Stränden der südlichen Nordsee von St.Peter-Ording bis Nordfrankreich

Wenn die Flut ihren höchsten Stand hat, das Wasser langsam wieder weicht, das Meer Meter für Meter von dem endlos scheinenden Strand ausspuckt, Sandbänke aus der grauen Nordsee wie aus dem Nichts auftauchen, dann beginnt die Hektik im Yachthafen von Sankt Peter-Ording. Masten werden gesetzt, Segel gehisst, Winschen kreischen, Schoten ächzen. Männer und Frauen zwängen sich in Trockenanzüge, die Gummimanschetten fressen sich in Hals und Arme. Unter den Visierhelmen lugen nur die wachen Augen angestrengt hervor.

Sankt Peter-Ording – Yachthafen für Landyachten

Dann geht es los. Yacht für Yacht verlässt den Hafen. Zurück bleiben tiefe Spuren – im Sand. Das Wasser, es ist hunderte Meter entfernt. Wie eine Mondlandschaft liegt die breite Plate zwischen den Dünen und der Wasserkante. Diese einzigartige Landschaft und die kilometerlange Sandbank südlich des großen Steges in der Ortsmitte sind das Revier der Strandsegler von Sankt Peter-Ording.

Der Yachthafen ist der einzige seiner Art in Deutschland. Nicht Boote liegen hier, sondern Dutzende Landyachten. Hochgerüstete Boliden aus Kunststoff und Kohlefaser. Strandsegler, die auf drei Reifen über den Sand sausen, lautlos getrieben vom Wind, auf Geschwindigkeiten wie sie sonst nur auf Autobahnen erlaubt sind. Je nach Klasse und Größe kosten die Segelwagen bis zu 20.000 Euro.

3_2c_strandsegler_101.jpg

3_2c_strandsegler_103.jpg

Abb. oben: Regatta-Start in ein traumhaftes Segelrevier – der Strand von St.Peter-Ording, in der Mitte zwischen Hamburg und Dänemark

Strandsegeln gehört zu Sankt Peter-Ording wie die Pfahlbauten und die salzige Luft. Der Ort an der Spitze der Halbinsel Eiderstedt ist das Mekka einer Sportart, die sonst nur noch auf den Ostfriesischen Inseln wie Borkum, Langeoog, Juist oder Norderney ausgeübt werden kann. Nirgendwo sonst in Deutschland bietet die Natur diesen harten Strand, kilometerlange Pisten über weite Sandbänke und tiefe Priele. Vom 20. bis 27. September 2013 steht Sankt Peter-Ording ganz im Fokus der internationalen Strandsegel-Elite. Hunderte Sportler nehmen dann an der Europameisterschaft teil.

Die Ehrfurcht vor dem Strand in Sankt Peter-Ording ist groß. Er gilt als der anspruchsvollste in ganz Europa, keine andere Strecke verändert binnen weniger Stunden so sehr ihr Profil, kommen neue Sandbänke hinzu, fressen sich Priele plötzlich durch die Strecke, entstehen Löcher aus dem Nichts, reißt ablaufendes Wasser tiefe Kanten in den Sand. Vor vier Jahren, bei der letzten Europameisterschaft in Deutschland, wurde in einem Rennen das halbe Feld der Klasse “Standard” aufgerieben. Rümpfe barsten, Masten brachen als Dutzende Piloten in einem Priel baden gingen.

3_2c_strandsegler_105.jpg

3_2c_strandsegler_107.jpg

Abb. oben: Strandparadies St.Peter-Ording – Mit 100 Sachen übers Wattenmeer

Aus einem Hobby von verrückten Deichbewohnern ist eine anerkannte Sportart geworden. In Frankreich gibt es Hunderte Aktive, die an der Kanal- und Atlantikküste trainieren, ebenso in Belgien und den Niederlanden. In Großbritannien bietet die Westküste bei Liverpool großartige Strände, doch die meisten britischen Landsegler trainieren auf stillgelegten Flugplätzen.

In den vergangenen Jahren hat sich das Strandsegeln professionalisiert. Es gibt Bootsbauer, die sich auf Landyachten spezialisiert haben – in Frankreich, in Belgien und auch in Deutschland. In Hamburg entwirft Bernard Morel seine “Extreme”-Yachten. Strandsegler, gebacken aus glasfaserverstärktem Kunststoff, gestaltet am Computer, mit Laser vermessen und im Windkanal erprobt.

Der Schleswiger Segelmacher Sven Kraja rüstet mit seinen Frog Sails die Flotte aus. “Es ist wie in der Formel-1?, sagt Kraja, der 2012 Weltmeister in der Klasse Miniyachten im Strandsegeln geworden ist. Die Entwicklung geht immer weiter. Neue Schnitte, neue Materialien, neue Nähte. “Wenn man überlegt, dass selbst bei einem Fussball die Nähte darüber entscheiden, wie weit der Ball fliegt, wie er sich dreht, dann kann man sich vorstellen, wie wichtig das erst bei Segeln ist.” Die technische Entwicklung beim Strandsegeln, sagt er, “hört nie auf.”

3_2c_strandsegler_116.jpg

3_2c_strandsegler_117.jpg

Abb. oben: Fürstliches Vergnügen im Jahr 1608 – Der erste Strandsegler in Scheveningen, Den Haag

Dabei gehen die Ursprünge des Strandsegeln viele Jahrhunderte zurück. Erstmals tauchten sie in Europa um 1600 auf. Inspiriert von Lastenseglern auf Rädern in China entwickelte der Physiker und Wasserbauingenieur Simon Stevin für den niederländischen Fürsten Moritz von Oranien den ersten Segelwagen. Zusammen mit dem Fürsten und 26 Gästen segelte Stevin unter einem riesigen Segel 95 Kilometer am Meer entlang. In weniger als zwei Stunden. Vor 400 Jahren eine Sensation.

Noch in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts glichen die Segelwagen in Sankt Peter-Ording abenteuerlichen Kreationen eines Daniel Düsentriebs. Zusammengeschustert aus Fahrrädern, geschweißt aus Autoersatzteilen und unter riesigen Segeltüchern sind da die Segler noch über die Strände gebrettert.

Einst fliegende Kisten – heute High-Tech-Boliden

Davon ist heute nichts mehr zu merken. Strandsegeln ist in der Welt des Sports angekommen. Der Strandsegel-Weltverband FISLY hat sechs verschiedene Klassen lizensiert, die jeweils strenge Anforderungen erfüllen müssen. Sie unterscheiden sich in Konstruktion, Größe, Gewicht und Segelfläche. Fast alles ist penibel vorgeschrieben, ähnlich wie beim Wassersegeln. Die Segler, Piloten genannt, benötigen einen speziellen Schein für das Strandsegeln. Denn zwischen dem Segeln auf dem Wasser und dem Land liegen Welten.

Erst sind es nur kleine schwarze Striche, die senkrecht in den Himmel stechen. Dort, wo der Strand in den Horizont übergeht. Doch schnell werden sie größer, ein leises sonores Surren wird lauter. Muschelschalen bersten auf dem harten Sand, in den Prielen spritzen Wasserfontänen in die Höhe. Sekunden später sind die schwarzen Striche schon als Masten zu erkennen. Mit weit über 100 Stundenkilometern kommen sie fast lautlos näher.

3_2c_strandsegler_109.jpg

3_2c_strandsegler_110.jpg

Abb. oben: Die “Klasse 3? auf Abwegen – So setzt man Landyachten in den Sand oder geht mit Rennwagen baden

Die kräftige Seebrise zerrt an Schoten und Wanten, umströmt die Segel wie eine Tragfläche und peitscht die flachen Kisten über die Sandbank. In den Wenden und Halsen schliddern die dreirädrigen Wagen in atemberaubenden Zweikämpfen über den Strand, steigen mit einem Rad dramatisch in die Höhe, um dann vom Piloten gefühlvoll wieder auf den Boden gesetzt zu werden.

Strandsegler können problemlos die dreifache Windgeschwindigkeit laufen. Wegen der enormen Geschwindigkeit bläst der scheinbare Wind immer von vorne, auch wenn der wahre Wind von hinten kommt. Nur wenn die Strömung im Segel abreißt, der Tragflächeneffekt versiegt, verlieren die Wagen an Fahrt, saugen sich die Reifen im Sand fest.

Nur wer das millimetergenaue Spiel an der Schot versteht, kann die Geschwindigkeit halten. Nur wer den Strand lesen kann, wird vorne mitfahren. Die anderen enden in den Prielen, die eben noch einer Pfütze glichen, Minuten später aber schon reißende Bäche sein können, und bleiben im weichen Sand stecken oder versacken in tiefen Schlammlöchern.

3_2c_strandsegler_112.jpg

3_2c_strandsegler_114.jpg

Abb. oben: Strandsegeln in St.Peter-Ording – Der riesige Strand ist so herrlich wie tückisch

Es ist eine bunte Truppe, die sich dem außergewöhnlichen Sport verschrieben hat. Längst sind es nicht mehr nur Eingeborene aus Sankt Peter-Ording, die zu Regatten und Trainingseinheiten die endlosen Strände entlangsegeln. Die Wagemutigen kommen aus ganz Deutschland nach Sankt Peter-Ording. Viele aus Hamburg und Niedersachsen, aus Nordrhein-Westfalen und Berlin und sogar aus Bayern. Unter ihnen sind reife Akademiker und junge Draufgänger, gesetzte Unternehmer und wilde Kreative – Männer und Frauen, Studenten und Grossväter. Teils Verrückte, die für ihren Sport keine Mühen scheuen. Tausende Kilometer legen sie jedes Jahr im Auto samt Anhänger zurück, um an Regatten in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden teilzunehmen. Tagelange An- und Abfahrten für wenige Stunden segeln – oder Frust, wenn gar kein Wind weht.

Strandsegeln lernen kann jeder. In der Strandsegelschule Nordwind, direkt am Yachthafen in den Dünen, bringt Segellehrer Sven Harder jede Woche Neugierigen den außergewöhnlichen Sport näher. Von mehrstündigen Schnupperkursen über Wochenendkurse bis hin zu der Pilotenlizenz bildet Harder die Strandsegelnovizen aus. Viele von ihnen lassen sich infizieren von diesem ungewöhnlichen Sport, sind schon wenig später Teil des internationalen Rennzirkus.

Der Autor
Jens Brambusch ist Wirtschaftsjournalist in Berlin und Hamburg. Vor fünf Jahren entdeckte er das Strandsegeln für sich. In diesem Jahr nimmt er an seiner dritten Europameisterschaft teil.

Fotos
Aufmacherfoto und alle Regatta-Fotos in St.Peter-Ording: Andrea Koch
Weitere Abbildungen: Historische Archivbilder und, sofern nicht namentlich genannt, besteht Creative Commons License (CC) oder Public Domain (PD) oder sonstiges Copyright/Copyleft laut rechtlichem Hinweis in Website Information nach EU-Richtlinie 2000/31/EG